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Helden des Alltags: Mitarbeiter im Einzelhandel

7. Mai 2020

Während ich diese Zeilen schreibe und du sie liest, arbeitet jemand gerade in irgendeinem Supermarkt an seinem persönlichen Limit. Reißt sich in Stücke. Multitasking. Immer freundlich. Das war auch vor der Coronazeit so. Doch jetzt wird das Ganze noch getoppt, verlass dich drauf. Aber wird den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern eigentlich angemessen dafür gedankt? Und wie sieht Dankbarkeit für diese Helden des Alltags aus?

Das kann ganz unterschiedlich aussehen. Und man neigt manchmal dazu, sich zu fragen, was es denn soll. McDonalds etwa formt täglich auf Twitter ein M aus Emoji-Händen (um Krankenhausmitarbeitern zu danken). Leute applaudieren am Fenster für Pflegekräfte und Mitarbeiter im Einzelhandel. Aber Moment, ich möchte ehrlich sein: ich halte nicht viel von solchen Gesten, so gut gemeint sie auch sein mögen. Warum? Weil sie in ihrer Bedeutung mit Karacho an der Realität vorbeischlittern!

Wenn die Plattenspieler-Nadel über die Platte kratzt

Ein Beispiel gefällig? Samstagnachmittag. Schauplatz: Ein größerer Discounter. Da ist dieses junge Pärchen, etwa Mitte 20 (soweit ich das einschätzen konnte), beide tragen eine Gesichtsmaske und schauen sich in der Drogerie-Abteilung um. Aus heiterem Himmel ruft der junge Mann einer etwa 10 Meter entfernten Mitarbeiterin mehrmals ein ruppiges „Hallo“ zu, bis sich diese zu ihm dreht. 

Nur um sie in einem ebenso ruppig-unfreundlichen Ton zu fragen: „Warum müssen die Verkäufer hier eigentlich keine Maske tragen?“. Die Verkäuferin antwortete ihm, dass sie von der Geschäftsführung nicht dazu angehalten würden, während er sie mitten im Satz unterbricht: „Ja, aber es kann doch nicht sein, dass ICH ‘ne Maske tragen muss und SIE und ihre Kollegen NICHT!“ 

Ich dachte, ich höre gerade nicht richtig. Hat sich dieser neunmalkluge Typ gerade ernsthaft völlig willkürlich eine Verkäuferin herausgepickt, weil er gerade Lust darauf hat, seinen persönlichen Frust abzulassen? Da war es plötzlich – das Geräusch, wenn die Plattenspieler-Nadel über die Platte kratzt. Als er gerade begann, sich in Rage zu reden, unterbrach wiederum ich ihn nun, und ich gebe es zu: meine Aufforderung an ihn, mal seine Klappe zu halten, das Personal in Ruhe zu lassen und sein Shampoo zu kaufen, äußerte ich nicht gerade in meiner freundlichsten Art.

Da guckte er nun wie ‘ne Kuh wenn’s donnert, mein Puls stand bei 180, seine Partnerin drehte sich peinlich berührt um, die Verkäuferin räumte weiter die Regale ein und schließlich ging schließlich seines Weges.

Die hier von mir geschilderte Szene ist natürlich weder repräsentativ, noch lässt es sich auf die Mehrheit aller Kunden im Einzelhandel übertragen. Aber frag mal irgendjemanden aus dem Team des Supermarkts deines Vertrauens, ob er oder sie nicht vielleicht schon eine ziemlich ähnliche Erfahrung machen durfte. Ob sie aktuell der Kundschaft schlichtweg ausgeliefert sind. Mit großer Wahrscheinlichkeit wirst du ein „Yep, das kenn’ ich!“ als Antwort bekommen. Mit Sicherheit wird diese Person aber noch nachschieben, dass es unfreundliche Kunden aber auch schon vor Corona gab. 

Und so wird ’n Schuh draus

Ich will hier wirklich keine Schwarzmalerei betreiben. Aber: Die Erkenntnis „Das gab’s auch schon vor Corona“ ist ja das eigentliche Problem. Erinnere dich an letztes Jahr und frag dich mal: Wie oft hast du mitbekommen, wie der Vordermann oder die Vorderfrau in der Schlange im Kassenbereich weder ein „Guten Tag“ noch „Bitteschön“, „Dankeschön“ und „Auf Wiedersehen“ über die Lippen bekommt, obwohl sich die Person an der Kasse trotz aller Hektik nicht zu schade dafür ist, jeden einzelnen mit einem „Hallo“ zu begrüßen? Wie oft hast du mitbekommen, wie Leute im Supermarkt, in Drogerien, im Lebensmitteleinzelhandel, Möbelhaus oder anderen Einkaufsstätten ihrer Unfreundlichkeit gegenüber den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern einfach freien Lauf lassen? Als würden sie mit einer defekten Waschmaschine oder klemmenden Schranktüren sprechen, statt mit Menschen!

Jetzt kitzelt die Coronakrise nicht unbedingt die positivsten Seiten in uns hervor. Leute hamstern, gucken grimmiger, agieren kaltschnäuziger, kaufen hektischer ein. Und ja, sie fahren auch häufiger aus der Haut. Manche gegenüber Mitarbeitern, manche gegenüber Leuten, die Mitarbeitern gegenüber aus der Haut fahren. Allen Hashtags und abendlichen Applausbekundungen am Fenster zum Trotz. 

Die besten Dinge im Leben sind kostenlos

Um noch einmal kurz auf das oben geschilderte Erlebnis zurückzukommen: Man kann sicherlich über eine Menge Dinge diskutieren – über Sinn und Unsinn, ob Kunden im Discounter Masken tragen müssen, während das dort arbeitende Team keine Maske trägt. Oder weshalb große Baumärkte öffnen dürfen, während Warenhäuser geschlossen bleiben müssen. Was aber – ob Corona oder nicht – gar nicht geht: seinen Frust an Menschen ablassen, die täglich einen Job meistern, den andere nicht einmal ein paar Stunden am Stück schaffen würden.

Nett sein kostet nichts. Doch ein nettes Wort, ein „Dankeschön“ oder ein „Schönen Tag noch!“ macht den Alltag angenehmer. Aber salopp gesagt: auch davon können sich die Frauen und Männer, die den Einzelhandel jeden Tag am Laufen halten und jede Menge Überstunden schieben, letztendlich nichts kaufen. Erst recht nicht von Solidaritätsbekundungen via Radio, YouTube-Clips, Fernsehspots oder Fenster Applaus, die vor Pathos nur so triefen. Sie brauchen und verdienen humane Arbeitsbedingungen, eine angemessene Bezahlung und damit vor allem Wertschätzung Respekt für das, was sie tun. Es ist eben nicht nur das Auffüllen von Regalen und das Kassieren, was die Arbeit im Einzelhandel ausmacht. So abgenutzt der Begriff dank inflationärer Verwendung in den Medien inzwischen sein mag – aber ja, es sind „Helden des Alltags“.

Ich weiß von den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, die ich persönlich kenne, dass sie zum Beispiel schon eine ganze Weile im Laden sind und alles startklar machen, bevor die erste Kundschaft eintrudelt. Dass sie sich während der Arbeitszeit buchstäblich vierteilen, weil sie sich um zig Dinge gleichzeitig kümmern müssen und chronisch unterbesetzt sind. Noch eine ganze Weile im Laden bleiben, nachdem die letzte Kundschaft dagewesen ist. Immer freundlich sein, Kundenfragen beantworten und wissen müssen, wo der Bio-Ahornsirup steht, warum die Hefe alle ist und wann es wieder neue Milch gibt. Ganz nebenbei noch Ladendiebe aufhalten, bis die Polizei eintrifft und heute zusätzlich ein größeres Risiko eingehen, sich mit dem Coronavirus anzustecken, als viele andere. Dass ein gewöhnliches ‚Danke‘ eher eine Seltenheit ist.

Das große Ganze

Eine Menge Einzelhändler sorgen bereits löblicherweise schon für gute Arbeitsbedingungen und bieten ihrem Team Anerkennungen on Top – aber machen wir uns nichts vor: Kauffrau/-mann im Einzelhandel zählt nicht gerade zu den begehrtesten Berufen in diesem Land. Und dass, obwohl auch sie zu den wichtigsten Berufsgruppen gehören. „Systemrelevant“ heißt das neuerdings so schön bürokratisch. Aber der Begriff bringt es auf den Punkt. „System“ kommt laut Wikipedia vom altgriechischen „sýstēma“ und bezeichnet ein „aus mehreren Einzelteilen zusammengesetztes Ganzes“. Wir haben gemerkt, wie es sich auf unseren persönlichen Alltag auswirkt, wenn Restaurants und Friseure fehlen. Stell dir mal vor, die Leute im Einzelhandel würden aus genannten Gründen hinschmeißen und als wichtiges Einzelteil letztlich im großen Ganzen fehlen. Es sind wirklich „Helden des Alltags“. Umgekehrt gehört neben vernünftigen Arbeitsbedingungen und einer fairen Bezahlung auch Freundlichkeit und Wertschätzung gegenüber den Mitarbeitern zum großen Ganzen. Letztere beiden Punkte können wir als Kunden jeden Tag mitbringen. Wir alle. Trotz Corona. Und (hoffentlich) erst recht danach.